Wenn
man irgendwo neu ist, betrachtet man die Dinge genauer. Dinge, die in
vertrauter Umgebung zu übersehen wären, fallen auf und bekommen Gewicht.
Ich bin neu in Innsbruck. Ich trete im 9. Stock des Universitätsgebäudes
am Inn aus dem Aufzug, wende mich nach links, will am Fotokopierer vorbei.
Bleibe stehen. Da hängt, groß und sehr blau, ein Plakat. 'Start-Programm
Wittgenstein-Preis'. Ganz unten am Rand des Plakats sehe ich
ein vertrautes Bild. Ludwig Wittgenstein, wie er einen, unbestimmt lächelnd,
ansieht. Wittgenstein, auf einem der letzten Fotos, das wir von ihm kennen.
Oben, am oberen Bildrand, das Kontrastprogramm. Ein
Bild, das mir sofort obszön vorkommt. Ich kann mich nicht gegen das Wort
und nicht gegen das Gefühl wehren: Startblöcke. Junge, sehnige, angespannte
Sportlerbeine. Nur die Beine bis hin zu den knappen Sporthosen. Beine,
die zwei junge Männer aus den Startblöcken katapultieren. Kraft signalisierend,
Entschlossenheit, Bereitschaft zum sportlichen Wettkampf. Die zwei Männer
sieht man nicht. Nur diese Beine.
Ein Kontrast, der so stark ist, daß ich drei Tage lang, immer wenn ich
an dem Plakat vorbeigehe, nur kurz hinsehen mag. Ich scheue mich davor,
stehenzubleiben.
Schließlich bleibe ich doch stehen. Erst jetzt, da ich ruhig lese, verstehe
ich, daß es da um zweierlei geht. Im oberen Teil, dort, wo sich die Sportlerbeine
befinden, wird für das Start-Programm geworben. "Für hervorragend qualifizierte
WissenschaftlerInnen. Altersgrenze: Jahrgang 1965 oder jünger. Dauer:
6 Jahre." Immerhin sind "1,5 bis 2,5 Mio ATS pro Jahr" ausgelobt.
Der
untere Teil des Plakats weist auf den Wittgenstein-Preis hin. Der Wittgenstein-Preis
ist nicht das Start-Programm. Er ist "für Spitzenforscherinnen und Spitzenforscher".
Die "Altersgrenze: Jahrgang 1950 oder jünger". (Nebenbei: Warum eigentlich
diese Einschränkung? Gibt es unter denen, die über 50 sind, keine Spitzenkräfte?
Ist der Zeitpunkt der beginnenden Vergreisung in der Dynamikgesellschaft
auf das 50. Lebensjahr vorverlegt?) Es wird eine internationale Jury geben,
erfährt man. Der Tag der Jurysitzung steht schon fest: Es wird der 9.
Juni 2001 sein. Es braucht wieder einige Fußmärsche am Inn entlang, bevor
mir klar wird, was mich an diesem Plakat als semiotischem Ganzen so sehr
stört.
Dieses Plakat ist der Kristallisationskern für viele andere Beobachtungen,
die sich bisher nur schwer fassen und einordnen ließen. Wittgenstein,
dieser asketische Intellektuelle, selbst er wird also vereinnahmt. Natürlich
weil er in Österreich geboren ist und eine Zeitlang hier gelebt hat. Sicher
auch, weil er weltberühmt ist. Aber genau das, dieses Vereinnahmen - nicht
durch Österreich, sondern durch das heutige alles bestimmende, alles umklammernde
Erfolgsdenken, das ist es, was mich
stört.
Ich habe mich, seit ich in Innsbruck bin, immer wieder einmal gefragt,
was sich in den Universitäten, in der Zeit, die ich mit eigener Erfahrung
überblicke, geändert hat. Und nicht nur an den Universitäten, sondern
in der Gesellschaft. Jetzt, vor diesem Plakat stehend, wird mir deutlich:
Das Denken ist nun endgültig in den Beton des Machens und des Erfolgs
eingegossen. Es gibt immer noch beinahe alles, was es vor dreißig Jahren
auch gab. Museen, Theater, Romane, Professoren für Philosophie. Es gibt
die Universitäten und die geisteswissenschaftlichen Fachbereiche der Universitäten.
Nur, vor einer erinnerlichen Zeit war es so, daß die Geisteswissenschaftler
ihren Platz in der Gesellschaft hatten. Sie galten auch damals vielen
Menschen als unnütz, aber diese Un-Nützlichkeit war eng verbunden mit
dem Gedanken der Kultur. Der gesellschaftliche Konsens war einmal: Es
muß Menschen an den Universitäten geben, die sich um das kümmern, was
das Leben und das Denken über das starre, einfache Machen emporhebt. Man
war sich - irgendwie - einig: Die Glasperlenspieler geben der Gesellschaft,
und sei es auch auf langen Umwegen, etwas zurück, was die Gesellschaft
braucht, wenn sie nicht veröden und verblöden will, nämlich gedankliche
Tiefe. Sinn.
Heute, da sich so viel gewandelt hat, denken wir nicht mehr über den Wandel
nach. Das Sparbuch wurde durch die Aktien der einfachen Leute abgelöst,
und seitdem wuchern die Maßstäbe des Rendite-Denkens über alles hinweg.
Es ist gelungen, den Geisteswissenschaftlern das Gefühl zu vermitteln,
daß sie, ausgehalten vom Wohlwollen der so überaus Tüchtigen und Erfolgreichen,
in ihren Türmen gerade noch existieren dürfen. Aber die Türme sind längst
nicht mehr aus Elfenbein, sondern aus dem Beton, den das omnipräsente
Dynamik-Denken angerührt hat.
Das
asketische, dieses schmerzhaft-unbedingte Denken des Ludwig Wittgenstein,
nein, dieses Denken zu erfassen ist nicht eine Sache des Dynamiker-Intellekts.
Das Wittgensteinsche Denken existiert in kristalliner Klarheit jenseits
der ökonomischen Vernunft. So sehr, daß jeder, der sich einmal auf diese
Art zu Denken eingelassen hat, fröstelt, wenn er den am Leben und am Denken
leidenden Ludwig Wittgenstein unter diesen Symbol-Sportlerbeinen sieht.
Wohlgemerkt, ich habe nichts gegen Ingenieure, nichts gegen die Kunst
eines genialen, weitblickenden Managements, nichts gegen Bankdirektoren,
allgemein: nichts gegen Menschen, die sich erfolgreich darum bemühen,
das wirtschaftliche Leben in Schwung zu halten und der Wirtschaft neue
Impulse zu geben. Nein, ich erkenne ausdrücklich an, daß geistiges Leben
etwas ist, das nur auf dem Boden eines gewissen wirtschaftlichen Überflusses
gedeihen kann. Aber dennoch wäre ich nachgerade tief dankbar, wenn die
in Wirtschaft und Politik Erfolgreichen noch erkennen könnten, wo ihre
Grenzen sind. Wenn sie begreifen könnten, daß nicht die zu bewundernden
Hersteller der schönsten und wertvollsten Geigen es sind, die das Konzert
geben und uns die Musik erleben lassen, und schon gar nicht die, die Geigenfabriken
für wohlfeile Volksinstrumente hochgezogen haben. Es sind auch nicht die
Händler, die die Geigen in der ganzen Welt verkaufen. Nein, ohne die Violinisten
geht es nicht, und vor allem geht es nicht ohne die Komponisten, die in
einer eigenen Welt leben und im praktischen Leben oft so ungeschickt sind,
daß ihnen nur das Armengrab bleibt.
Es bleibt ein Vorschlag zu machen: Die, die den Wittgenstein-Preis erdacht
und ausgerufen haben und auch die, die jetzt über seine Vergabe entscheiden
werden, sie sollten sich einmal ein wenig Ruhe gönnen und ein Buch lesen:
die Wittgenstein-Biographie von Ray Monk. Wer dieses Buch langsam genug
liest, wird manches begreifen. Er wird erfahren, daß Ludwig Wittgenstein,
Philosoph, Intellektueller aus einem reichen Wiener Elternhaus und später
arm, zu seinen Lebzeiten mit seinem Tractatus
logico-philosophicus nur ein einziges schmales Büchlein veröffentlicht
hat. Da sollte der Leser, der aus der Welt des Erfolgs stammt, innehalten
und darüber nachdenken, ob Wittgenstein damit wohl den Maßstäben des heutigen
Publish or perish! genügen und als ein guter Universitätsprofessor
gelten würde. Es wird wieder erinnerlich werden, daß Wittgenstein, stets
schwer leidend an der eigenen Begrenztheit, sich gelegentlich sogar aus
dem Philosophen-Leben zurückgezogen hat. An eine österreichische Volksschule,
in ein norwegisches Holzhaus, in den Stand des Krankenpflegers in einem
Londoner Krankenhaus während des 2. Weltkriegs. Und dann sollten sich
diese in ihrem Leben so erfolgreichen Leser am Ende fragen, ob man einem
solchen Mann nicht die Ehre angedeihen lassen sollte, keinen Preis
nach ihm zu benennen.
Werner
Zillig, 50, lebt in Mons-en-Barœul (Nordfrankreich) und
ist Gastprofessor am Institut für Deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik
der Universität Innsbruck.
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