Philosophie bedeutet "Liebe zur Weisheit". Sie hat sich jedoch
zum Teil auf rein rationales Argumentieren verlegt. Ist damit sowohl die
Liebe als auch die Weisheit verlorengegangen?
Philosophieren heißt aber auch Offensein für
die Grundfragen des Lebens, selbst wenn damit die Grenzen des rational
Begründbaren erreicht sind. Ist der Punkt, an dem Philosophen zu
ausschließlichen "Denkern" werden, das Ende der Philosophie?
Oder ist/war Denken mehr als rationales Denken? Setzen sich Philosophen
zwischen die zwei Sesseln Naturwissenschaft und Religion/Spiritualität
oder können sie diese Extrempositionen des menschlichen Wissenserwerbs
verbinden, ohne in einer davon aufzugehen?
Philosophie war ursprünglich eine "universale" Wissenschaft
oder Wissenschaft schlechthin - bis sich die Einzelwissenschaften von
ihr getrennt haben. Heute ist sie weder universal, noch "Wissenschaft"
im gebräuchlichen Sinn. Denn wo sie sich auf das rationale Denken
beschränkt, verliert sie die Universalität. Und Wissenschaft
kann sie auch nicht mehr sein in einer Zeit, die Wissenschaft auf Naturwissenschaft,
die Erforschung von Materie in Raum und Zeit mit der Methode des Experiments
(eine vereinfachte Situation, die so in der Natur nicht vorkommt) beschränkt
hat. Während den Forschern unter den Naturwissenschaftern dieser
Rahmen zwar längst zu eng geworden ist, halten Schulwissenschafter
noch krampfhaft daran fest. Diesen einengenden Rahmen, der unser Weltbild
auch generell bestimmt, bewusst zu machen, zu erweitern und mit verschiedenen
Denkrahmen umzugehen, wäre wohl eine Herausforderung der Philosophie
heute.
Denn die eigentliche Aufgabe der Philosophie ist nicht das Kommentieren
von Texten, Ideen und Systemen, sondern einfach immer wieder authentisch
die Grundfragen der Menschheit zu stellen. (Nicht möglichst
kompliziert und möglichst unverständlich, denn diese Fragen
sind auch in ihrer Einfachheit unverständlich genug). Und darauf
hinzuweisen, dass in einem pseudonaturwissenschaftlich geprägten
Welt- und Menschenbild diese Fragen gar nicht mehr gestellt werden können.
Ludwig Wittgenstein schrieb in seinem Tractatus logico philosophicus:
"Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen
Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt
sind". Das Eigentlich-Menschliche entzieht sich der naturwissenschaftlichen
Betrachtung.
Wenn etwa die Biologie versucht, Lebensformen zu verstehen und zu beschreiben,
muss die Frage "Was ist Leben?" immer ausgeschlossen bleiben.
Diese Frage kann der Biologe als Naturwissenschafter nicht einmal stellen,
sondern nur als Mensch. Die Wissenschaften haben sich zwar von der Philosophie
"emanzipiert", Philosophie ist aber immer noch in den Wissenschaften,
nämlich im Stellen (oder Nicht-Stellen-Können) der Grundfragen
- nach der Materie, dem Leben, der Evolution, der Psyche, dem Geistigen,
dem Menschen und seiner Entwicklung - und nach dem Sinn des Ganzen. Und
Naturwissenschafter, die es wagen, sich auch mit Grundfragen zu befassen,
sind oft ganz ausgezeichnete Philosophen, haben dann jedoch einen schweren
Stand in ihrer scientific community.
Denkrahmen schließen ein und grenzen aus
Was bis heute noch immer verdrängt und unbewusst bleibt, ist die
Tatsache, dass wir nicht nur in ein Land, ein Volk, eine Familie, eine
Sprache hineingeboren wurden, sondern auch in eine ganz bestimmte Art
und Weise, die Welt zu sehen. Die Art, wie wir die Welt sehen, erleben
und in ihr agieren, hängt ab von einem Denkrahmen. Dieser zeigt den
für uns wichtig gewordenen, gewohnten Ausschnitt der Wirklichkeit
- er schließt ein und er grenzt aus. In diesen Denkrahmen sind wir
hineingewachsen, wir können aber auch (und müssen vielleicht
sogar) über ihn hinauswachsen. Man kann innerhalb dieses Denkrahmens
zwar alles, sogar philosophieren, aber an den blinden Fleck und an das,
was dieser Rahmen ausschließt, wird man so nie herankommen.
Das Bewusstsein, dass wir immer innerhalb eines Denkrahmens leben
und argumentieren (auch die Philosophen!), muss die Frage nach seiner
Herkunft provozieren. Schon dies trägt zu seiner Relativierung bei.
Besonders interessant dabei ist das, was traditionell ausgeblendet wurde
und wird. Bei genauerem Hinsehen ist beispielsweise unser westliches Weltbild
nicht allein von griechischer Philosophie, Christentum und Naturwissenschaft
geprägt, sondern auch vom Islam (Europa war jahrhundertelang von
der arabischen Kultur geprägt - was gewissen Aspekten der Fremdenfeindlichkeit
einen weiteren geschichtsverleugnenden Anstrich verleiht). Und die nicht-rationalen,
magisch-mystischen, auch die ganzheitlichen Strömungen wurden und
werden immer ausgeblendet. Ebenso die Komplexität und Mehrdimensionalität
des Seins. Letzteres gilt besonders für die naturwissenschaftliche
Überlagerung des westlichen Weltbildes, denn Naturwissenschaft beschäftigt
sich mit einfachen Systemen, komplexe Zusammenhänge sind naturwissenschaftlich
nur schwer fassbar. Anklänge gibt es erstmals in der Chaostheorie,
die eben eine Theorie komplexer Systeme ist.
Gleichzeitig mit dem Bewusstsein des eigenen Weltbildes wird auch bewusst,
dass es daneben noch andere Weltsichten gibt, die in vielen Belangen konträr
und doch ebenso gültig, weil ebenso wirklichkeitsbewältigend,
sein können. Und dann folgt die Entdeckung, dass alle diese Weltbilder
- zumindest in ihren allgemein anerkannten Versionen - nicht vollständig
sind und dass sie einander ergänzen können. So ist grob gesagt
die Stärke des westlichen Weltbildes die rationale Erschließung
der Außenwelt, die Domäne der östlichen Weltanschauungen
die meditative Erschließung der Innenwelt. Und die Stärke des
einen ist die Schwäche des anderen. (Karikierend könnte man
sagen, die östliche Sicht ist ebenso brotlos wie die westliche (naturwissenschaftliche)
Sicht Sinn-los).
Die Beschäftigung mit anderen Weltsichten schärft somit den
Blick auf die im eigenen Weltbild ausgeblendeten, verdrängten und
zu kurz kommenden Seiten - denn sie fehlen ja nicht wirklich, sie wurden
und werden nur im "mainstream" unterdrückt. Damit kommt
man - über das Verständnis anderer Kulturen - zu einer vollständigeren
Sicht der eigenen Kultur. Durch die Beschäftigung mit außereuropäischen
Kulturen und den innerhalb der westlichen Welt normalerweise ausgeblendeten
Dimensionen rückt aber die Ganzheit menschlichen Seins immer mehr
in das Blickfeld.
Dazu kommt, dass die Naturwissenschaft ihre engen Grenzen teilweise bereits
durchbrochen hat, dass die Physik als Erforschung von Materie in Raum
und Zeit heute nicht mehr denk- und nicht einmal berechenbar wäre
ohne die Annahme eines (immer noch physikalischen) Bereichs "jenseits"
von Raum und Zeit. Den Forschern unter den Naturwissenschaftern war auch
immer bewusst, dass Rationalität nicht für sich bestehen kann,
dass ihr ohne grundlegende A-Rationalität sogar der Boden unter den
Füßen entzogen wäre. Zu den Naturgesetzen führt kein
logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich
stützende Intuition, betonte Albert Einstein, einer jener Forscher,
die es sich leisten konnten, auch Philosoph zu sein.
Spektrum menschlichen Seins
Die erfahrbare Lebenswelt ist eine komplexe, vieldimensionale Angelegenheit,
von der auch die Summe der Anstrengungen des Wissenserwerbs der universitären
Fächer zeugt. Das Spektrum reicht von Physik, Chemie und Biologie
über Psychologie und Sozialwissenschaften bis zur Philosophie und
Theologie. Neue "Fächer" wie Biophysik, Biochemie, Psychosomatik,
Psychoneuroimmunologie usw. zeigen, dass es sich hier eher um ein "Kontinuum"
handelt. In unserem Zusammenhang wichtig ist aber, die "Spannweite"
nicht zu verlieren. Darin hat sich das gesamte Spektrum menschlichen Seins
abgebildet, das in einem zeitgemäßen Weltbild vollständig,
vom Materiell-Körperlichen über das Psychisch-Seelisch-Soziale
bis zum Geistig-Spirituellen als "Grundraster" enthalten sein
muss. Was jeder für sich in die einzelnen Ebenen einordnen kann und
will, bleibt durchaus offen und zu diskutieren. Worüber man heute
nicht mehr diskutieren kann, ist die Verleugnung und Verdrängung
der spirituellen oder sogar auch der seelischen Ebene.
Überdies ist eine derartige Verleugnung nicht nur unbegründbar,
sondern auch gesundheitsschädlich, wie amerikanische Untersuchungen
belegen, die zeigen konnten, dass "spirituelle" Menschen gesünder
sind und sich im Krankheitsfall schneller erholen, als jene, die ihre
Welt auf das Materielle reduziert haben. Umgekehrt sind Materialismus,
Egozentrik und die dar-aus resultierende Isolierung erwiesenermaßen
krankmachende Faktoren. Ein reduziertes Welt- und Menschenbild kann also
durchaus sehr handfeste, auch gesundheitliche Konsequenzen haben. Natürlich
stehen derartige Forschungen erst an ihren Anfängen, weil das allgemein
akzeptierte Weltbild eine derartige Sicht ausblendet und daher Studien
in dieser Richtung eher die Ausnahme sind. Vom psychologischen Standpunkt
ist es jedoch klar, dass Verdrängung nicht gesund sein kann.
Sinn, Freiheit, Orientierung ...
Was heute immer ausgeblendet wird, ist die Sinn-Frage, denn Sinn ist keine
Dimension der materiellen Welt. Sinn kann jeder für sich interpretieren,
wie er/sie will, aber nur auf einer geistigen Ebene. Sinn ist keine naturwissenschaftliche
Kategorie, und das wird mehr und mehr zum Problem. Den Sinn im Materiellen
zu definieren, führt nur zum bekannten Sinn-Vakuum. Sinn liegt auch
im Für-Andere-Da-Sein, in der Verbundenheit mit andern und im Hinausgehen
über das Ich. (Auch da gibt es amerikanische Studien, die das Gesundheitspotential
dieser Einstellung belegen).
Auch Freiheit ist ein komplexes Phänomen. Frei ist die menschliche
Entscheidung, zumindest potentiell, aber ich bin nicht frei, die Folgen
meiner Entscheidung anzunehmen oder zu verweigern - die sind immer inkludiert
und wirken zurück. So können freie Entscheidungen in Abhängigkeiten
führen. Wer ist außerdem das "Subjekt" der Freiheit?
Wer das Ich meint, geht möglicherweise von einer isolierten Situation
aus, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Und es müsste nach dem
Sinn des Menschseins und dem Sinn der Evolution zumindest gefragt werden,
bevor man vordergründig ein Ich-will anspricht. Dieses "Ich"
betrifft die Oberfläche der Persönlichkeit; um das Menschsein
zu begreifen, muss das Unter- und Überbewusste einbezogen werden.
Wer nur das Erdgeschoss seines Hauses als "Realität" anerkennt
und Keller und Stockwerke verleugnet, der kann mit den Grundfragen des
Lebens gar nicht zurechtkommen.
Menschen brauchen Orientierung. Orientierung kann aber nicht zweidimensional
horizontal gelingen. Sich nur im Erdgeschoss zu orientieren, bedeutet
ein sehr beschränktes Dasein. Ein "forschender Geist" wird
jede Treppe einfach benützen und sie nicht verleugnen, nur weil in
anderen Zimmern ja auch keine Treppen sind. Das wäre die Logik der
- missverstandenen - Wissenschaft: Wir erforschen, was wir erforschen,
alles andere gibt es nicht. Das ist Ideologie. Diese Einstellung wäre
das Ende der wirklich forschenden Wissenschaft, das Ende der Philosophie
und auch das Ende des Menschlichen.
Denkrahmen als solche zu erkennen, gewohnte Grenzen zu überschreiten
birgt die Gefahr, dem Menschlichen näher zu kommen, das Menschliche
nicht an wirtschaftlichen, politischen, hedonistischen, egoistischen,
materialistischen oder sonstigen schmalspurigen Gesichtspunkten zu messen
- auch nicht an nur rationalen.
Letztlich kann sich Denken nicht hinter dem rationalen Denken verstecken.
Nicht umsonst sind Entspannungstechniken bei so manchen psychosomatischen
Beschwerden angezeigt. Die Entspannung fängt dabei aber bei der körperlichen
Entspannung nur an, sie geht weiter zur mentalen Entspannung, dem Loslassen
von einengenden Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen, Vorurteilen usw.,
um von der Oberflächenspannung zur Mitte zurückzukommen. Womit
das angedeutet wäre, was in allen Kulturen als Meditation und Kontemplation
gepflegt wurde und wird. Und was als Gelassenheit auch bei uns einmal
die Tugend der Philosophen war.
Robert
Harsieber, Philosoph und Wissenschaftsjournalist, betreibt eine Philosophische
Praxis in Wien.
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